Der Barde zupfte an den Saiten seines Instruments und ließ die Noten unheilverkündend erklingen. Erfreut darüber, dass der Geschichtenerzähler seine Pause beendet hatte, widmeten die Besucher des Wirtshauses ihm erneut ihre volle Aufmerksamkeit, sobald die Musik an ihre Ohren drang.
„Nun, wie ich schon sagte, die nebligen Tiefen des Abgrunds verbargen, wie weit unten der Fluss tatsächlich lag. Ein ziemlich tiefer Fall, zweifelsohne, doch nicht tödlich. Marin wurde in diese kalten Fluten geschleudert, die ihn sogleich mit sich rissen. Sofort war er nass bis auf die Knochen. Wann immer der Fluss es zuließ, schnappte Marin nach Luft, während er durch Tunnel und Kammern schoss, immer tiefer hinunter – wohin alle Flüsse fließen – in die Katakomben hinein. Schließlich verlor der Fluss an Kraft und wurde träge und seicht genug, dass unser Held sich ans Ufer ziehen konnte …“
Nach diesem wilden Ritt den Fluss hinunter erlaubte sich Marin eine kurze Auszeit, um einige Maß Wasser auszuhusten und wieder zu Atem zu kommen. Er begutachtete den Schaden (verletzter Stolz, einige Beulen und Schrammen) und sah sich um.
Der Fluss hatte ihn am „Ufer“ einer Höhle abgesetzt, in der große, blau und purpurfarben leuchtende Pilze wuchsen. Die Luft war erfüllt von ihrem intensiven, leicht beißenden Geruch. Von solchen Orten hatte er bereits gehört – Haine voll leuchtender Pilze mit seltsamen Eigenschaften gab es in den Katakomben zuhauf – doch hatte er bis jetzt nicht viel Gelegenheit gehabt, sie sich genauer anzusehen. Es hieß, Pilzfürst Ixlid treibe sich an diesen Orten herum, für Marin ein mehr als ausreichender Grund, sie zu meiden.
Als er so zwischen den übergroßen Pilzen hindurchschlich, entwurzelte sich einer der Pilze von selbst und watschelte auf Marin zu. Er wirkte fast schon niedlich, doch Marin war nicht so lang an einem Stück geblieben, weil er sich von Äußerlichkeiten blenden ließ. Marin blieb auf Abstand und versuchte, ihn zu verscheuchen.
„Hast du nicht was Besseres zu erledigen? Ganz wichtige Pilzangelegenheiten vielleicht? Dort drüben, in dieser Richtung?“ Marin redete mit einer beruhigenden Stimme auf ihn ein, in der Hoffnung, die plumpe Gestalt von seinen harmlosen Absichten zu überzeugen.
Die Pilzkreatur sah zu ihm hinauf, als er sprach, und legte fragend den Kopf zur Seite. Sie zögerte für einen Moment, bevor sie ein ohrenbetäubendes, schädeldurchbohrendes Kreischen von sich gab. Das Geräusch traf Marin mit voller Wucht und er stolperte, sich vor Schmerzen die Ohren haltend, zurück.
Ein solcher Höllenlärm konnte ja nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregen! Mit den Fingern in den Ohren flüchtete Marin vor dem Geräusch in den nächsten Tunnel, verfolgt von den schrillen Echos des Gekreisches.
Als der Abstand zwischen ihm und der Kreatur wuchs, erstarb auch allmählich das Geräusch. Schließlich vergingen ganze Minuten in wohltuender Stille. Marin gestattete sich einen Atemzug und dachte sich, dass er vielleicht noch einmal Glück gehabt und das grässliche Kreischen schlussendlich doch niemanden angelockt hatte.
„Nicht nachlassen, ihr Tunnelratten!“, ertönte ein Ruf aus dem Tunnel hinter ihm.
Er sollte Unrecht behalten.
Wann immer Marin die Katakomben betrat, war er auf Überraschungen gefasst. Trotzdem schaffte es dieser Ort immer wieder, ihn von Zeit zu Zeit wahrlich zu überrumpeln: Ein Kobold stolzierte den Korridor entlang auf ihn zu, mit einem Entersäbel in der Hand und von Kopf bis Fuß in der Aufmachung eines Schiffskapitäns gekleidet. Eine der Hände des Kobolds war durch den Kopf einer Spitzhacke ersetzt worden (eine etwas ungewöhnlichere Alternative zum guten alten Haken). Sein Kapitänshut war mit einem mehrarmigen Kerzenständer ausgestattet und weitere Kerzen waren mitsamt brennenden Dochten in seinen stoppeligen Bart geflochten.
Marin begab sich in Kampfhaltung, als der exzentrisch gekleidete Neuankömmling und sein bunter Haufen ebenso exzentrischer Anhänger sich ihm näherten. Der Kobold beäugte Marin mit einem unerwartet erfreuten Ausdruck auf dem rattenartigen Gesicht und steckte seinen Säbel weg. „Bei meine Schnurrhaare! Du sein Pirat wie wir!“
Es war Marin ein Rätsel. Aus irgendeinem Grund hielten ihn Fremde ständig für einen Piraten. Marin war in seinem ganzen Leben noch nie auf einem Boot gewesen, das größer als ein Kanu war. Allerdings konnte es vielleicht von Vorteil sein, wenn er jetzt einfach mitspielte. Der Kobold kannte sich hier aus und eventuell konnte er ihm ja einige nützliche Werkzeuge abnehmen, die er an den Fluss verloren hatte.
"Ja. Äh, aye. Ich bin eindeutig ein Pirat. Steuerbord! Joho, Achterdeck, Rum und so weiter.“
Der piratische Kobold senkte den Blick und nickte, als überdenke er die Weisheit in Marins Worten, und zeigte dann ein zahnlückiges Grinsen. „Ich sein Kapitän Wachsbart. Willkommen in Mannschaft!“
Mit einer ausschweifenden Geste seiner Hackenhand wies Wachsbart zu einem bunt zusammengewürfelten Haufen sonderbar gekleideter Kobolde hinüber, der sich hinter ihm sammelte. Keiner von ihnen sah auch nur annähernd wie ein Pirat aus, doch das schien Wachsbart nicht zu stören.
„Zurück zu Schiff, ihr Taugenichtse! Denken an violett Wurmtunnel backbordseitig!“
Die Gruppe der „Piraten“ wanderte vom Pilzwald aus durch ein Labyrinth aus Gängen, bis die natürlichen Steintunnel schließlich balkengestützten Minenschächten wichen. Wachsbart ließ auf dem ganzen Weg fröhlich nautischen Nonsens vom Stapel und es wurde schnell klar, dass er sogar noch weniger über das echte Piratenleben wusste als Marin. Dieser fragte sich währenddessen, wie der Kobold überhaupt auf derlei Ideen gekommen war. Die Antwort darauf sollte er schon bald erhalten.
Sie betraten eine aus dem Fels geschlagene Höhle. Sie schien eine Art Knotenpunkt zu sein, in den mehrere kleinere Tunnel mündeten. In der Mitte, angelehnt an die Höhlenwand, befand sich der stattliche Rumpf eines verfallenen Piratenschiffs. Trauben brennender Kerzen warfen ein flackerndes Licht von seinen Relings und Masten und die Fenster der Kapitänskajüte glühten von innen heraus. Seine geisterhaften, zerrissenen Segel und eine mottenzerfressene schwarze Flagge (natürlich mit einer Kerze und gekreuzten Knochen bemalt) wogten in einem stetigen Luftzug. Marin hatte nicht die geringste Ahnung, wie das Schiff hier, so tief unter der Erde und weit entfernt vom nächsten Ozean, geendet war.
Wachsbart führte sie an Bord und in die Kapitänskajüte. Von ihrer früheren Pracht war nicht viel übriggeblieben, obwohl sie, wie könnte es auch anders sein, von Kerzen gesäumt war. Die Kajüte war nur spärlich möbliert: ein Kapitänstisch mit einem thronartigen Kapitänsstuhl und eine verwitterte Schatztruhe. Eine an der Wand befestigte Karte erregte Marins Aufmerksamkeit. Darauf war ein großer Drachen gemalt und Marin hatte solche eine Karte zuvor schon gesehen; er vermutete, dass sie den Weg zum Hort von Vustrasz dem Uralten zeigte, dem mächtigsten und übellaunigsten Drachen, den es in den Katakomben je gegeben hatte, und der berüchtigt für sein Temperament und die von ihm gehorteten Reichtümer war.
Wachsbart deutete mit seinem Entersäbel auf das Bild des Drachen in der Mitte der Karte.
„Du sein Mannschaft gerade rechtzeitig beigetreten!“, verkündete Wachsbart mit einem fieberhaften Glanz in den Augen. „Wir werden Drachenschatz plündern!“
„… Und dafür wir brauchen Köder! “
„Ach ja, armer Marin, stets vom Kessel direkt ins Feuer“, klagte der Barde. „Und im Falle von Vustrasz dem Uralten meine ich das mit dem Feuer im wahrsten Sinne des Wortes. Aber sorgt euch nicht, Marin ist ein schlaues Kerlchen und wir werden schon bald erfahren, wie er mit Kapitän Wachsbart fertig wird!“ Die Gäste jubelten, pochten mit ihren Krügen auf die Tische und stampften mit ihren Füßen auf die Holzdielen.
Der Barde warf einen Blick in seinen Spendenkessel und wirkte leicht geknickt. „Doch auch wieder nicht so bald. Zeit für eine Pause!“
Das Finale folgt in Teil 4!